Die Zeit am Abgrund » Review

Nicht wenige zeichnerisch talentierte Otakus wünschen sich vielleicht, eines Tages mal selbst als Mangaka tätig zu sein, eine eigene Geschichte zu publizieren, die ihre Leser berührt und im Optimalfall sogar noch kommerziell erfolgreich ist. Dass die Erfüllung dieses Traumes allerdings auch Schattenseiten bereithalten kann, zeigt uns der sehr düstere und ungeschönte Einzelband "Die Zeit am Abgrund", welchen wir Dank “TOKYOPOP“ auch hierzulande erwerben können.


Worum es bei "Die Zeit am Abgrund" geht:


Fukazawa ist an der Spitze des Erfolges angekommen. Der weltweit gefeierte Mangaka hat sein Erstlingswerk "Leb wohl, Sonnenuntergang" eben nach 8 Jahren Laufzeit unter tosenden Applaus von Fans und Kritikern abgeschlossen. Genau da wollte der Enddreißiger immer hin.


Bereits von klein auf gab es nichts als Manga in seinem Leben. Das Hobby zum Beruf machen ist ein Slogan, den viele gerne in die Realität umsetzen würden, doch er hat es geschafft. Vollkommenes Glück was man wohl am besten mit der Metapher eines wunderschönen, strahlend blauen Himmels beschreiben könnte, aber in Wahrheit herrscht in Fukazawas Leben nur eitel Sonnenschein.


Nichts ist gut, nichts ist perfekt. Das Lächeln bei den Dankesreden auf Preisverleihungen ist längst zur einstudierten Farce verkommen. Gleiches gilt für seine Antworten auf Tweets von Fans. Besonders eine gewisse Akari scheint unendlich begeistert von seiner Arbeit zu Sein und tut dies regelmäßig euphorisch über Social Media kund. Für den Autor bedeutet das alles nichts mehr. Er ist angewidert von sich selbst und der Branche im Allgemeinen, die in seinen Augen keine kreativen Storys hervorbringt, sondern nur noch der oberflächlichen Unterhaltung frönt. “Leb wohl, Sonnenuntergang" zählt für ihn ebenso in diese Kategorie. Literarisches Fast Food, was sich gut verkauft, aber weder Seele noch einen Mehrwert besitzt.


Privat das gleiche Bild:


Eine Ehe aus Liebe gab es nie zwischen dem verbitterten Mann und der Manga-Redakteurin Machida, zumindest aus seiner Perspektive. Sie mochte damals halt sein Gekritzel und die klischeehaften Worte in den Sprechblasen. Sie zeigte Verständnis und ließ ihm Freiräume, da sie im gleichen Gewerbe tätig ist. Es folgte eine Heirat aus praktikablen Gründen.

Jetzt wo Fukazawa sich seiner unbefriedigenden Situation, des Burnouts und der Depressionen bewusst ist, soll ein Schlussstrich gezogen und gegen den Willen von Machida die Scheidung eingereicht werden.


Wenn es nach dem Verlag geht, muss Fukazawas Nachfolgewerk am besten schon kommende Woche auf dem Ladentisch liegen, doch ohne jegliche Freude und Leidenschaft am eigenen Beruf lassen sich logischerweise auch keine neuen Ideen zu Papier bringen. Als Folge des Ganzen entlässt der Mangaka seine beiden Assistenten und möchte sowas wie Trost und Sinnfindung in zahlreichen Dates mit jungen Prostituierten verspüren.


Wirkliche Zufriedenheit empfindet er im wahrsten Sinne des Wortes maximal nur stundenweise, bis Fukazawa die Escort-Dienste von Chifuyu in Anspruch nimmt. Diese Frau ist so anders, ihre fast schon katzenhaften Augen betören ihn. Ist sie vielleicht genauso wie er und symbolisiert das erhoffe kleine Stückchen Paradies, was schon so lange in seinem Leben gefehlt hat?


Einschätzung


... und dann lebten die Beiden glücklich und zufrieden miteinander bis ans Ende ihrer Tage.


Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, ein kitschiges und vorhersehbares Hollywood-Ende wie es unser Protagonist so verabscheut, wird es in "Die Zeit am Abgrund" definitiv nicht geben. Vielmehr vermittelt der Manga von Anfang an eine Atmosphäre von purer und depressiver Hoffnungslosigkeit. Man weiß zwar nicht, worauf alles genau hinauslaufen wird, aber ein harmonisches Bilderbuch-Happy End zählt definitiv nicht zu den realistischen Auswahlmöglichkeiten.


Ist Fukazawa ein Opfer seiner Umwelt, der Manga-Industrie dessen Wesen ihn langsam aber sicher zerstört? Ja und nein würde ich sagen. Zwar war exakt das vorab meine Erwartungshaltung an die Geschichte, die Botschaft sieht aber noch differenzierter und komplexer aus, als zunächst von mir angenommen. Natürlich wird hier ein interessanter, kritischer Blick auf die fragwürdigen Mechanismen innerhalb der Branche geworfen und der Hauptfigur gebührt Respekt, dies so mutig und unverblümt auszusprechen. Sein Lebenstraum erfüllte sich zwar, entsprach mit der Zeit aber nicht mehr seiner idealisierten, ausschließlich positiven Sichtweise. In diesem Punkt empfinde ich durchaus Mitleid mit ihm, nicht zu Verwechseln mit Sympathie, denn davon gab es meinerseits kaum welche.


Der Umgang mit den Menschen in seinem Umfeld trägt höchst rücksichtslose und toxische Züge, von Chifuyu und einer anderen Prostituierten einmal abgesehen. Personen die dauerhaft Teil des Alltags und besorgt um ihn sind, werden als Ballast empfunden sowie mitverantwortlich an der Gesamtsituation gemacht, um Wut und Frustration abzulassen. In diesem Zusammenhang tut mir besonders Machida leid, welche sich der unterkühlten, emotionsarmen Beziehung durchaus bewusst ist, aber dennoch gerne alles irgendwie zum Guten bewenden möchte, selbst wenn dies ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein scheint. Sie möchte die Scheidung definitiv nicht und will ihrem Partner eigentlich unbedingt aus dem Tief heraushelfen. Nicht zuletzt aufgrund ihres Jobs und weil sie eine der Ersten war, die an Fukazawas Talent geglaubt hat, lenkt sich ein Großteil seiner negativen Gefühle aber immer wieder auf sie, was Machidas Vorhaben unmöglich gestaltet und das Paar letztlich immer weiter auseinander treiben lässt.


Chifuyu auf der anderen Seite stellt einen vermeintlichen Hoffnungsschimmer, einen Ausweg aus der Tristesse dar, aber ist in Wahrheit doch nur Projektionsfläche. Natürlich kann sie aufmuntern, trösten, alles ein wenig erträglicher machen, aber nichts davon erreicht nur ansatzweise das Bild, was er sich in seinen Gedanken mit dieser Frau ausmalt.


Der außergewöhnliche, fast schon Semi-realistische Zeichenstil hat mich tief beeindruckt und untermalt die bedrückende Atmosphäre des Mangas. Optik und Inhalt bilden ein faszinierendes Zusammenspiel ab, ohne das die Essenz und Bitterkeit der Story, wahrscheinlich nur halb so gut zum Tragen kommen würde. Eine Art von Symbiose, die man nicht häufig findet und die sich daher umso mehr nachhaltig in mein Gedächtnis brennen wird.


Fazit


"Die Zeit am Abgrund" ist düster und deprimierend inszeniert worden. Humor oder hoffnungsvolle Passagen sucht man hier vergebens.


Wir bekommen gnadenlos ungeschönt, aber ebenso realitätsnah einen Mangaka zu sehen, der mit seinen Kräften physisch und psychisch am Ende ist. Ein anspruchsvoller, erwachsener, aber auch harter Stoff, für den man in der richtigen Stimmung sein sollte.


Produktdetails
Titel Die Zeit am Abgrund
Genres Drama
Autor/Zeichner Inio Asano
Einband Taschenbuch
Altersempfehlung ab 16 Jahre
Seitenanzahl 252
Serie Einzelband
Sprache Deutsch
ISBN 978-3-8420-4885-0
Verlag TOKYOPOP
Kaufmöglichkeiten amazon / Thalia / TOKYOPOP


Wir möchten uns auf diesem Wege herzlich beim Verlag für das Rezensionsexemplar und Bildmaterial bedanken.

Über den Autor

Hallo mein Name ist Frank und ich bin ein humanoides Wesen vom Planeten Erde.

Neben Animes und Mangas, fühle ich mich dem Punkrock sehr verbunden und gehöre dieser Szene seit 2008 an, zocke leidenschaftlich gern, bin Fußballfan des FC Energie Cottbus, FC Sankt Pauli und vom FC Bayern München.

Filmreihen wie Star Wars, Herr der Ringe, Blade Runner und Indiana Jones nehmen einen besonderen Platz in meinem Herzen ein.

Allgemein bin ich ein begeisterter Cineast. Von 1920er Stummfilmen bis heutiger Streifen interessiert und fasziniert mich eine breite Palette an unterschiedlichsten Genres.


Politisch engagiere ich mich z.B. für die Linke, die Partei, Campact, Amnesty International oder Sea Shepherd. Ich bin Flexitarier.

Frank Profi

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