Shiver: Meisterhafte Horrorgeschichten » Review

Junji Ito gilt seit Jahrzehnten als einer der besten und einflussreichsten Horror-Mangaka’s weltweit. In meinen Augen verdient er diesen Titel völlig zurecht. Dank der Veröffentlichungen von „CARLSEN“ bin ich ein großer Fan seiner Arbeit geworden und nachdem ich bereits „Gyo - Der Tod aus dem Meer“ rezensiert habe, freue ich mich sehr, euch heute „Shiver: Meisterhafte Horrorgeschichten“ vorstellen zu dürfen.


Das 400 Seiten starke Buch besteht aus insgesamt zehn Kurzgeschichten. Auf die Hälfte davon werde ich nun etwas näher eingehen.


Worum es in „Shiver: Meisterhafte Horrorgeschichten“ geht:


Die gebrauchte Schallplatte …


Die beiden Freundinnen Ogawa und Nakayama hören sich gemeinsam eine ominöse Schallplatte an, welche Erstere wie einen Schatz hütet und partout nicht rausrücken möchte. Nakayama kann das nicht verstehen, sie will doch nur eine Aufnahme davon anfertigen, um selbst immer wieder in den Genuss dieses so einzigartigen Tonträgers kommen zu können. Seltsamerweise befinden sich auf der Scheibe weder Musik noch Gesang mit Text. Einzig ein Summen und Murmeln sind darauf zu hören, was aber so lieblich und wunderschön klingt, dass sich niemand seiner hypnotischen Wirkung entziehen kann.


Nach kurzer Zeit entbrennt ein fataler Streit der Frauen um das Vinyl.


Das Model …


Ein aufstrebendes Team von Filmstudenten ist gerade in aller Munde, honoriert wird dies mit gleichermaßen viel Lob von Kritikern und Publikum. Unter ihnen ist der Drehbuchautor Iwasaki. Eigentlich befindet er sich gerade in einem kreativen Flow, sein Leben könnte kaum besser laufen.


Eines Tages verschlägt es ihm beim Durchblättern eines Modemagazins fast die Sprache: Zwischen all den nahezu makellosen Schönheiten befindet sich eine gewisse Frau Fuchi, die von gigantischer Körpergröße, aber gleichzeitig auch abgrundtiefer Hässlichkeit ist. Mehr Monster als Mensch in ihrer Erscheinung, beschert ihr Gesicht ihm wochenlang entsetzliche Alpträume.


Als die Männer später per Ausschreibung auf der Suche nach Models für das neue Filmprojekt sind, bewirbt sich bei ihnen doch tatsächlich besagte Dame um eine Rolle. Unter heftigen Protesten seitens Iwasakis entscheidet die Mehrheit, sie aufgrund ihres Alleinstellungsmerkmales gemeinsam mit der attraktiven Tamae zu engagieren. Doch Frau Fuchi duldet keine Konkurrentin und alle Beteiligten werden bald ihren unbändigen Zorn zu spüren bekommen.


Henkerballon …


Für alle war diese Nachricht ein großer Schock: Terumi Fujino, ein beliebter Teenie-Star, dem unzählige Fans zu Füßen lagen, wurde erhangen aufgefunden. Hat ihre lebenslustige Freundin etwa Selbstmord begangen? Kazuko kann sich das absolut nicht vorstellen, doch es mangelt leider an Beweisen, um einen anderen Tathergang als diesen rekonstruieren und belegen zu können.


Nur kurze Zeit später muss die Schülerin einen weiteren angeblichen Suizid beobachten. Am Ende des Strickes schwebt zu ihrer Fassungslosigkeit ein offenkundig lebendiger Ballon, auf dem sich das Gesicht des Opfers befindet und der diesem ganz bewusst eine tödliche Schlinge um den Hals gelegt hat.


Was von Kazukos Umfeld anfangs noch als lebhafte Fantasie abgetan wurde, entpuppt sich schnell als wahre Ballon-Invasion. Sie alle sind auf der Suche nach ihrem jeweiligen Ebenbild, um es gnadenlos ins Jenseits zu befördern.


Das Marionettenhaus …


Ein rastloses Leben ohne Heimat und festen Wohnort. Familie Kitawaki betreibt ein traditionelles fahrendes Puppentheater und bleibt dem folglich auch nie lange an einem Ort. Den von seinem Beruf fast schon besessenen Vater verließ die Mutter früh. Die drei Kinder sind als Puppenspieler dem strengen Drill des Vaters von da an ausgesetzt und werden von ihm bis zur Erschöpfung zur Arbeit für das Theater gezwungen. Eines Tages erkrankt der alte Herr schwer und stirbt ein halbes Jahr später. Der älteste Sohn Yukihiko hat bis dahin längst das Weite gesucht und ist spurlos verschwunden.


Die Jahre vergehen, bis seine beiden jüngeren Geschwister überrascht einen Brief von ihm in den Händen halten. Als sie in seine opulente Villa eingeladen werden, können sie ihren Augen kaum trauen: Yukihiko, seine Frau und der gemeinsame Sohn haben sich zu menschlichen Marionetten umfunktionieren lassen, die auf freiwilliger Basis von Dienern aus dem Obergeschoss mittels Klaviersaiten gesteuert werden und jede selbstständige Fortbewegung unnötig machen.

Schon Senior Kitawaki hat damals gesagt:


„Die Puppenspieler meinen, die Puppen zu führen. In Wahrheit sind es aber die Puppen selbst, welche die Kontrolle über alles haben“. Yukihiko hat diesen Gedanken seiner Meinung nach perfektioniert, ohne zu ahnen, was für Folgen das haben wird.


Der Maler …


Seine Bilder begeistern Kunstliebhaber in ganz Japan. Alle sprechen von dem herausragenden Maler Mitsuo Mori und seiner hübschen Muse Nana, die stets Modell für seine Werke steht.


Bei einer der zahlreichen gut besuchten Ausstellungen taucht die wunderschöne und ebenso geheimnisvolle Tomie auf. Mori bleibt fast der Atem stehen. Diese Frau ist absolut perfekt und makellos, stellt selbst Nana bei Weitem in den Schatten.


Über das angeblich einfältig dummes Gesicht von Nana, zieht Tomie belustigt und abfällig her. Sie selbst wäre als Modell des begnadeten Meisters doch viel besser geeignet. Schließlich kommt er ihrem Wunsch tatsächlich nach. Voller Tatendrang stürzt sich der Künstler auf seine neue Arbeit, erntet für das enttäuschende Ergebnis aber nur den Hohn und Spott der jungen Frau, die sich kurz darauf von ihm lossagt.


Mori kann und möchte nicht aufgeben. Er steigert sich langsam in eine krankhafte und gefährliche Obsession, die alles in seinem Leben einem Ziel unterordnet: Die unvergleichliche Schönheit Tomie’s 1:1 auf eine Leinwand zu übertragen.


Einschätzung


Diese fünf Kurzgeschichten sind meine persönlichen Lieblinge des Mangas, was nicht heißt, dass die anderen einen großen Qualitätsabbruch darstellen würden. Vereinzelt gab es zwar auch Abschnitte oder Enden, die mir etwas weniger gefallen haben, als Gesamtpaket und Sammlung verschiedener Storys hat es mir aber ausgesprochen gut gefallen und liefert einen interessanten Querschnitt durch das künstlerische Schaffen Itos.


Eine seiner größten Stärken ist und bleibt die Unvorhersehbarkeit, was als Nächstes in der Handlung passieren wird. Wer würde beispielsweise darauf kommen, dass der Titel von „Henkerballon“ wörtlich zu nehmen ist und auf den vermeintlichen Suizid eines Mädchens ein regelrechtes Massaker, ja fast schon eine Alien ähnliche Invasion folgt?


Oder der Filius eines Puppenspielers nach einer tragischen Familiengeschichte plötzlich zur humanoiden Marionette werden will? Als Leser schaut man hier wie erstarrt auf das Gezeigte und ist erst mal im positiven Sinne komplett sprachlos. Dieser Kniff gelingt dem Mangaka in erstaunlich präziser Regelmäßigkeit, kreativ und innovativ, ohne Stillstand und Eintönigkeit.


Wir sehen hier aber keinen Horror nur um das Schockieren und Verstören Willen, sondern auch eine ganze Menge intelligente und verschachtelte Metaebenen, die noch lange, nachdem wir das Buch aus der Hand gelegt haben, zum Interpretieren und Diskutieren einladen.


„Die gebrauchte Schallplatte“ zeigt, wie schnell moralische Bedenken über Bord geworfen werden, wenn alle Menschen nach einem bestimmten Gegenstand gieren, ihr eigenes Ego sowie den empfundenen Status in der Gesellschaft nur noch darüber definieren.

Jeder für sich genommen ist eine öde und generische Person, mit dieser Platte ließe sich das aber ändern. Dann besitzen sie etwas Besonderes, etwas, das sie aus dem grauen Einheitsbrei der Masse hervorhebt.


„Das Model“ wiederum präsentiert eine Abrechnung mit Schönheitsidealen. Eine hässliche Frau wie Fuchi passt nicht in dieses Bild, welche uns Medien genauer gesagt Normen als ästhetisch und erstrebenswert suggerieren. Wobei dieser Gegensatz hier natürlich bewusst extrem überspitzt dargestellt wird. Man könnte sogar so weit gehen, dass Fuchi das Filmteam und ihr Model dafür bestraft, Gefangene einer solchen Denkweise zu sein.


Tomie will deshalb unbedingt von einem Künstler in ihrer ganzen Schönheit eingefangen werden, weil jedes Foto von ihr sie seltsamerweise immer nur verzerrt und entstellt zeigt. Die Obsession ihrerseits überträgt sich, wie zuvor erwähnt, ebenso auf Mori. Dadurch, dass er unfähig scheint, ein gutes Porträt von ihr zu kreieren, keimen massive Selbstzweifel über das eigene Talent in ihm auf. Ist er vielleicht gar nicht so begabt, wie seine Bewunderer es ihm immer und immer wieder vorgaukeln?


In „Glyzerid“ erleben wir ein kleines Mädchen, was angewidert von dem vor Fett triefenden Yakiniku-Restaurant ihres Vaters ist. Sie liebt es daher, den Fuji in der freien und frischen Natur zu beobachten. Später plagen sie Halluzinationen von literweise Fett, was aus dem Berg ausbricht und sie zu verschlingen droht. Selbst der Fluchtpunkt, das Licht am Horizont, wird hier also Bestandteil des Traumas und symbolisiert eine tiefe Hoffnungslosigkeit.


Ergänzend zu den Geschichten finden sich jeweils am Ende einige ursprüngliche Notizen, Skizzen sowie ein Kommentar Itos zur Entstehung der Story. Hochinteressant, um ein wenig in seinen Arbeitsprozess und seine Gedankenwelt eintauchen zu können.


Ich bin von der gesamten optischen Aufmachung schlichtweg begeistert! Der Zeichenstil hat es mir sowieso angetan, dazu noch das schicke Cover und alles verpackt in einem festen und stabilen Einband, wie wir es von den anderen Junji Ito Veröffentlichungen CARLSEN’s bereits gewohnt sind.


Fazit


Inhaltlich und auch bei der optischen Verarbeitung wurde höchste Qualität an den Tag gelegt.


„Shiver“ liefert ein breites Spektrum an kurzen und knackigen Horrorgeschichten. Ideal für Neueinsteiger, aber ebenso Lesern wie mir, die sich zunehmend zum Hardcore-Fan entwickeln. :)


Hier geht es zur „Leseprobe von: Shiver: Meisterhafte Horrorgeschichten“!


Quelle „CARLSEN


Produktdetails
Titel Shiver: Meisterhafte Horrorgeschichten
Genres Horror
Autor/Zeichner (m/w/d) Junji Ito
Einband Taschenbuch
Altersempfehlung ab 16 Jahre
Seitenanzahl 400
Serie Einzelband
Sprache Deutsch
ISBN 978-3-551-75656-5
Verlag CARLSEN
Kaufmöglichkeiten amazon / Thalia / CARLSEN


Wir möchten uns auf diesem Wege herzlich beim Verlag für das Rezensionsexemplar und Bildmaterial bedanken.

Über den Autor

Hallo mein Name ist Frank und ich bin ein humanoides Wesen vom Planeten Erde.

Neben Animes und Mangas, fühle ich mich dem Punkrock sehr verbunden und gehöre dieser Szene seit 2008 an, zocke leidenschaftlich gern, bin Fußballfan des FC Energie Cottbus, FC Sankt Pauli und vom FC Bayern München.

Filmreihen wie Star Wars, Herr der Ringe, Blade Runner und Indiana Jones nehmen einen besonderen Platz in meinem Herzen ein.

Allgemein bin ich ein begeisterter Cineast. Von 1920er Stummfilmen bis heutiger Streifen interessiert und fasziniert mich eine breite Palette an unterschiedlichsten Genres.


Politisch engagiere ich mich z.B. für die Linke, die Partei, Campact, Amnesty International oder Sea Shepherd. Ich bin Flexitarier.

Frank Profi

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